Habt ihr auch diese uralten Familienfotos? Gestellte Fotos aus Fotostudios. Schwarz/Weiß oder in Sepia. Im Bild eine ganze Großfamilie oder ein Paar mit 1-2 Kindern. Und alle machen ein Gesicht, als hätte man sie direkt vor dem Fotografieren gezwungen eine Kanne Essig auszutrinken?
Je weiter man zeitlich zurück geht, umso seltener findet man ein Lächeln. Man hat das Gefühl die abgebildeten Leute werden immer fremder und unsympathischer. Manchmal erwischt man sich dabei zu denken, dass diese Leute wohl unglücklich gewesen sein müssen… dass sie ein sehr hartes Leben hatten und deshalb „nichts zu Lachen“.
Wenn man sich aber ein klein wenig mit dem Thema auseinandersetzt, dann wird einem auch schnell klar, dass ein Teil dieses Phänomens mit der Entwicklung der Fotografie selbst zusammenhängt. Als die Technik der Fotografie noch in den Kinderschuhen steckte, da gab es Verschlusszeiten von mehreren Minuten. Man braucht nicht viel Phantasie, um sich vorzustellen, dass es nahezu unmöglich ist, ein Lächeln so lange zu halten. Es erscheint schon schier unmöglich so lange bewegungslos in der gleichen Position zu verharren.
Aber das erklärt eigentlich nur einen Teil des Phänomens und das Problem der sehr langen Verschlusszeiten war schnell behoben. Verschlusszeiten von 4-5 Sekunden bieten keine Erklärung mehr.
Das Lächeln auf Fotos ist ein Phänomen der Neuzeit.
Man muss sich vergegenwärtigen was vor der Fotografie war… nämlich Gemälde und Zeichnungen. Wieviele Ölgemälde habt ihr schon gesehen auf denen jemand ein breites Lächeln zeigt?
Ich vermute mal kein einziges. Und das geheimnisvolle Lächeln der Mona Lisa ist so einzigartig, dass es das Bild weltberühmt gemacht hat.
Wer einmal im Leben ein Ölgemälde von sich hat anfertigen lassen – was ohnehin nur mit ausreichend finanziellen Mitteln überhaupt denkbar war – ging davon aus, dass er/sie so… mit einem einzigen Bild… der Nachwelt erhalten bleibt. Auf Jahrhunderte das einzige Abbild. Der einzige „eingefangene“ Ausdruck sollte da kein Lächeln sein, sondern Ernsthaftigkeit oder moralische Gewissheit.
Am Anfang war Fotografie quasi ein Nischenthema für Technikfreaks. Erst mit der Zeit entstanden Fotostudios die Porträtfotos als Dienstleistung anboten. Fotos von Alltagssituationen waren lange Zeit gar nicht möglich. Der freie Zugang zur Technik war lange Zeit verstellt und – wie die Ölgemälde – nur wohlhabenden Leuten vorbehalten. Das Lächeln auf Fotos galt als albern und dümmlich und man verband es mit Betrunkenen oder mit dem Bereich der Unterhaltung. Man wollte auf einem Foto nicht wirken wie eine Zirkussensation.
Es gibt zu dem Thema sogar ein Zitat von Mark Twain (1835-1910):
A photograph is a most important document, and there is nothing more damning to go down to posterity than a silly, foolish smile caught and fixed forever.
Das könnte man in etwa so übersetzen: „Ein Foto ist ein sehr wichtiges Dokument. Man kann der Nachwelt nichts Blamierenderes hinterlassen als ein dümmliches Grinsen, das einmal eingefangen wurde und dann für immer festgehalten ist.“
Mit der technischen Weiterentwicklung wurden Fotos langsam populärer und für die Allgemeinheit erschwinglicher. Trotzdem hatte die breite Masse von Menschen kaum Zugang. Es war nicht ungewöhnlich, dass es von einer Person oder einer Familie nur genau ein einziges Foto gab.
Aus heutiger Sicht – mit Smartphones in jeder Westentasche – fast unvorstellbar.
Wenn ihr nur ein einziges Foto von euch haben könntet… im ganzen Leben… wie würdet ihr gucken?
Wenn man sich die Entwicklung der Fotografie anschaut, dann hat sich in den letzten 100 Jahren unglaubliches verändert. Die Zugänglichkeit für Normalsterbliche hat ein Revolution ausgelöst. Aber damit, dass jeder plötzlich private Fotoalben füllen konnte (und das bald auch in Farbe) war es ja noch nicht getan. Die digitale Fotografie ist kaum mal 20 Jahre für Jedermann/-frau (in der westlichen Welt) erschwinglich. Smartphones gibt es gerade mal 10 Jahre im Massenmarkt und Kameras sind erst damit in nahezu jeder Tasche und in jeder Alltagssituation zückbar.
Mit der digitalen Fotografie fällt die mengenmäßige Begrenztheit in die vollkommene Nebensächlichkeit und mit den Smartphones kann quasi 24/7, überall und in jeder Situation fotografiert werden. Das hat alles verändert. Und es wird sich weiter verändern und sicher nicht langsamer werden.
Ich bin sehr fasziniert von dieser Entwicklung. Fasziniert von der Geschwindigkeit. Aber ich werfe auch gerne mal einen Blick darauf woher wir kommen. Der Zwang auf Fotos zu lächeln ist noch gar nicht wirklich alt. Er kam erst mit den Fotoapparaten in jedem Haushalt und den Fotoalben in jeder Wohnzimmerschublade. Diese Zeiten sind aber schon längst überholt. Die Fotomengen sind nicht mehr begrenzt und die Verfügbarkeit von Kameras ist 24/7 gegeben. Wir haben keinen Grund mehr NUR zu lächeln. Wir können uns jetzt leisten auch mal ernst zu gucken. Wir können uns erlauben zu experimentieren. Wir können uns – auch ohne Selfiewahn – jetzt jeden Tag neu erfinden und alle Facetten abbilden.
Fräulein Freud meint
Cooler Post – sehr schön, mal was ganz was anderes zu lesen, Danke dafür. Noch nie drüber nachgedacht aber öfter schon mal unbewusst gefragt 🙂
Lg aus Wien
Christina
Susi und Kay meint
Danke für den tollen und interessanten Beitrag. Ich habe mich auch schon oft gefragt warum man nie jemanden lächeln sieht, habe mir dabei für mich selbst gedacht, dass die Menschen damals viel Geld für ein Foto bezahlt haben und konnten sich das so wie heute nicht leisten, zudem konnten sie die Fotos vielleicht auch nicht einfach so aussuchen und löschen, wenn ihnen eines nicht gefallen hatte.
Liebe Grüße Susi
Jessica meint
Ich denke, es hat unteranderem auch was mit den Zähnen zu tun.
Die hatten früher sehr schlechte Zähne.
Wenn sie eine Zahnbürste hatten, würde die in unter der Familie geteilt.